Im Zuge der Vorbereitung des Kongresses und des Aufenthalts von EDWIN MARIA JOHN und JOSEPH RATHINAM in Europa hatten wir die Gelegenheit Edwin Maria John bereits ein paar spannende Details zu den soziokratischen Parlamenten in Indien zu entlocken. Hier die Übersetzung der Fragen und Antworten auf deutsch:
Wie viele Gruppen sind im Einsatz?
Kleine Selbsthilfegruppen, in denen vor allem arme Frauen organisiert sind, gibt es 3 Millionen in Indien, wobei ich nicht sagen kann, ob diese als Kreise im soziokratischen Sinn bezeichnet werden können.
Um wie viel hat sich die Anzahl zwischen 1974 und 2019 vergrößert?
Wenn man die Anzahl der Gruppen betrachtet, in denen sich Menschen zu Selbsthilfegruppen organisiert haben, können wir von 3 Millionen in Indien sprechen. Aber das ist nicht alleine meine Arbeit und es sind nicht ausschliesslich soziokratische Kreise. Aber aus einer Situation, in der es als unmöglich erachtet wurde, dass sich insbesondere arme Menschen in solch einem großen Ausmaß in kleinen Gruppen organisieren könnten, sind sie zu dieser Menge angewachsen.
Daher können wir sagen: es ist möglich die Welt im Grossen zu organisieren wenn wir mit kleinen Gruppen starten.
Wie viele Nachbarschaftsparlamente sind soziokratisch organisiert?
Wenn Gruppen gemeint sind, in denen die Soziokratie vollständig implementiert ist, sind das nicht viele. Die meisten befinden sich in unterschiedlichen Phasen der Implementierung der Soziokratie.
Im Rahmen von Kirchengemeinden entstandene Nachbarschaftsgruppen, so genannte “Christliche Basis Gemeinschaften”, von denen es in Indien fast 100.000 gibt. Speziell diese setzen Soziokratie im großen Stil ein, dieser Prozess befindet sich allerdings noch im Anfangsstadium.
Gibt es Zahlen? Wie haben sich diese zwischen 1974 und 2019 entwickelt?
1974 gab es nahezu keine und nun gibt es fast 400.000 kleine auf Nachbarschaft basierende Einheiten. Der Unterschied zu den 3 Millionen Kleingruppen ist, dass sich die 400.000 als auf Nachbarschaften basierend definieren.
Wie viele Kinderparlamente funktionieren soziokratisch? Gibt es Zahlen? Wie hat sich ihre Anzahl zwischen 1974 und 2019 vergrößert?
Es gibt dazu keine exakten Zahlen, weil wir nicht über das erforderliche Personal verfügen, um mit allen in Kontakt zu bleiben und darüber Aufzeichnungen zu führen. Es ist eher eine Bewegung.
Im Bundesstaat Kerala mit seinem Kudumbashree-Programm gab es früher 60.000 Gruppen und jetzt nur noch 40.000. Dieser Rückgang ist auf die wachsende Zahl kleiner Familien zurückzuführen. Die Familien haben heutzutage weniger Kinder.
Aber wenn Sie fragen, ob sie voll soziokratisch geführt werden, kann ich das vielleicht nicht eindeutig sagen. Das sind kleine Gruppen und sie sind auch durch repräsentative Strukturen verbunden, obwohl es möglicherweise nicht in vollem Umfang die doppelte Verknüpfung gibt. Und auch bei der Entscheidungsfindung durch klassischen Konsent haben sie noch ein Stück des Weges vor sich.
Inklusive Nachbarschaftskinderparlamente (INPCs) sind nicht die Scheinparlamente, die die Kinder früher in den Schulen hatten. Anders als in Scheinparlamenten, die nur eine einmalige Show sind, treffen sich die INCPs jede Woche und die von ihnen getroffenen Entscheidungen sind verbindlich. Ihre Minister üben ihr Amt aus, auch wenn die Sitzungen nicht stattfinden. Sie wurden in rund 20 Ländern ins Leben gerufen und breiten sich weiter aus, um für die Zukunft eine neue Kultur der kollektiven Entscheidungsfindung und partizipativen Governance zu schaffen.
Hören Kreise auf zu arbeiten und zu existieren? Wie oft passiert das? Wie ist die Vorgangsweise?
Dies ist in den verschiedenen Kreisen unterschiedlich.
Bezüglich der Kreise armer Frauen in Kudumbashree-Stadtteilen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie aufhören zu existieren sehr gering. Der Grund dafür ist, dass sie mit Grundausstattung wie Krediten, geringen Ersparnissen, Einkommensgenerierung und Marketing verbunden sind. Darüber hinaus sind sie mit lokalen Regierungsstrukturen verbunden, die ihnen eine ganze Reihe von Aufgaben und Verantwortlichkeiten zuweisen. Dadurch existieren sie weiter.
Dies gilt auch für die Nachbarschaftsgruppen innerhalb der Kirche. Das sind fast 100.000. Sie bleiben bestehen, weil auch sie bestimmte Rollen und Aufgaben haben, die ihnen von der Kirche zugewiesen wurden.
In letzter Zeit hat der Bundesstaat Kerala diese Nachbarschaftskreise in die lokalen Verwaltungsstrukturen integriert. Das bedeutet, dass die lokale Verwaltungsstruktur von den Nachbarschaftskreisen ausgeht und es Viertelversammlungen gibt, die als “Shabas” bezeichnet werden. Die “Sabhas” werden wiederum auf der Ebene der Lokalpolitik zu einer Versammlung miteinander verbunden, die “Panchayat” genannt wird. Die Regierung von Kerala hat detaillierte Anweisungen zu den Rollen und Funktionen dieser Nachbarschaft Sabhas und ihrer Föderationen herausgegeben. Daher werden auch sie nicht aufgelöst werden.
Bei Kinderparlamente, die in Wohnvierteln und Dörfern organisiert wurden, hatten wir Probleme. Wir mussten uns hauptsächlich auf bezahlte Animatoren verlassen, die diese Gruppen unterstützen und sie weiter motivieren, da die Kinder eine Art instabile Bevölkerung in der Region sind, weil sie der Kindheit entwachsen oder sogar aus den Dörfern auf der Suche nach besseren Perspektiven in Bezug auf Bildung oder Einkommensgenerierung wegziehen. Wir fanden uns in einer Situation wieder, in der wir es uns nicht mehr leisten konnten, die bezahlten Animatoren zu unterstützen und da kam die Arbeit zum Stillstand. Daher haben wir dann versucht, Kinderparlamente in Schulen zu gründen. Dies schien eine bessere Perspektive zu sein, da sie stabil genug sind, um die Parlamente der Kinder zu erhalten. Unsere Aufgabe ist es nun, die Regierungen dazu zu bringen, sie als eine Art Regierungspolitik einzurichten, die entweder durch Bildungseinrichtungen oder durch lokale Regierungsstrukturen kontinuierlich unterstützt wird. Wir versuchen auch, die verschiedenen Abteilungen der Regierung und gemeindenahen Organisationen dazu zu bewegen, sicherzustellen, dass sie ihre Aktivitäten durch diese Kinder- und die Nachbarschaftsparlamente der Erwachsenen ausüben. Wenn es genug Rollen zu erfüllen oder bespielen, genug Aufgaben zu erledigen, genug Verantwortlichkeit zu übernehmen gibt, bleiben die Kreise erhalten. Wir nennen das das Prinzip der Konvergenz in unserer Nachbarschaftstheorie.
Wie viel Geld war das für die Volksplanungskampagne im Bundesstaat Kerala?
Das sind 15.000 Millionen Rupien pro Jahr. Der Euro beträgt jetzt etwa 78 indische Rupien [Anmerkung: daher ca. 192 Mio €/Jahr]. Aber die Kaufkraft von Rupien in Indien ist höher als das, was man in Euro dafür bekommen würde. Daher war es viel Geld.
Wie ist es dazu gekommen, dass diese Gelder für dieses Projekt zugeteilt wurden?
Früher mussten sich die lokalen Regierungsbehörden auf übergeordnete Planungskommissionen verlassen, um zu entscheiden, was für sie gut ist. 1996 beschloss die damalige Regierung, die Menschen in die Planung einzubeziehen. Dementsprechend steuerte die Planungskommission des Staates den Prozess der Einbeziehung von Menschen in die Planung.
Welche Faktoren haben dazu beigetragen, das zu ändern?
Die Planungskommission glaubte damals daran, die Menschen zu befähigen und sie einzubeziehen, für sich selbst zu planen. Es war eine mutige Zeit. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Kerala bereits Initiativen zur Organisation von Nachbarschaftsgruppen von Frauen und der allgemeinen Öffentlichkeit. Daher war es einfacher, dasselbe zu erweitern und “Sabhas” oder “Ayalkoottams” [Anmerkung: Nachbarschaftsgruppen] in den partizipativen Planungsprozess mit einzubeziehen.
Hattest du eine Idee / Strategie, wie man etwas ändert – was war das?
Das war nicht meine Idee. Es war die Idee der Planungskommission des Staates. Ich könnte höchstens sagen, dass ich einen Teil dazu beigetragen habe, dass die Planungskommission die Aufmerksamkeit auf die Nachbarschaft Sabhas lenkte und sie einbezog. (Anfangs ging die Planung nur bis auf Dorf- / Gemeindeebene). Als Strategie oder Idee scheint sich herauszukristallisieren, dass Menschen, die sich am Planungsprozess beteiligen, den Veränderungsprozess wirklich ernst nehmen, ihn zu ihrer eigenen Sache machen und ihren Teil dazu beitragen, damit es ein Erfolg wird.
Was hat gut funktioniert?
Die Planungskommission veröffentlichte Bände von Erfolgsgeschichten, in denen aufgrund der Beteiligung von Personen an der Planung in einem bemerkenswert kurzen Zeitraum viel erreicht wurde. Die Menschen haben sogar selbst finanziell dazu beigetragen, die Zuwendungen der Regierung zu ergänzen, dann nun sie es waren, die entscheiden konnten, was für sie am besten war und die Projekte genau ihren Bedürfnissen entsprachen.
Was hat nicht gut funktioniert?
Der Prozess musste im Kontext der fest verwurzelten Haltung von Zentralisierung zwischen der Bürokratie und anderen Betroffenen implementiert werden. Zweitens mussten sie sich, da dies ihr erstes Experiment war, auf Fachwissen stützen, wo sich einige Betroffene einfach nicht meldeten, um es zu teilen. Der Mangel an ausreichend ausgebildeten Freiwilligen verursachte einige Probleme. Der Prozess fand auch vor dem Hintergrund einer Spaltungspolitik statt, in der die Oppositionspartei beweisen muss, dass etwas schlecht ist, während eine Regierungspartei etwas versucht.
Was hast du gelernt?
Das Gesamtsystem muss soziokratisch sein und mehr als eine auf Parteien basierende Demokratie, damit solche Prozesse ihre vollen Ergebnisse erzielen können.
Wer leitet in der Regel die Kreise / Verbände? Wie ist der Prozentsatz der Teilnehmer*innen?
In Kreisen von Nachbarschaftsgruppen von Frauen sind es Frauen, die führen. Sie wählen ihre eigenen Amtsträgerinnen.
In der Nachbarschaft der Sabhas, die Teil der lokalen Selbstverwaltung sind, kommen Männer und Frauen zusammen, aber normalerweise sind es Frauen, die sich stärker beteiligen.
Wie erklärst du dir, dass sie immer einflussreicher werden?
Ja, das passiert. Vor allem in Entwicklungsländern bleiben Frauen mehr in der Nachbarschaft als Männer. Alles, was auf Nachbarschaft basiert, bietet Frauen einen zusätzlichen Vorteil gegenüber Männern. Dies wurde in den letzten beiden aufeinanderfolgenden Kommunalwahlen ersichtlich. In den lokalen Leitungsgremien wurden mehr Frauen als Männer gewählt. Das Verhältnis der gewählten Vertreter beträgt nun 54% Frauen und 46% Männer.
Ist Kaste / sozialer Status noch ein Thema oder wird dies durch die Nachbarschaft gemildert?
Wir können nicht sagen, dass die Unterschiede zwischen Kaste und sozialem Status vollständig verschwunden sind. Aber die Entfernungen zwischen Kaste und Religion verringern sich, wenn die Gruppen zusammenkommen, sich aufeinander beziehen, zusammen entscheiden und zusammen handeln. Ein Beispiel: Ursprünglich tranken die Leute aus hohen Kasten kein Wasser aus Häusern von niedrigen Kasten. Aber Gruppentreffen wurden nacheinander in verschiedenen Häusern abgehalten und als sie zusammenkamen, wurden sie gebeten, allen Wasser zu geben. Dies war ein großer Durchbruch.
Welche Hilfe brauchen die Kreise?
Sie müssen mehr über Soziokratie wissen.
Sie müssen in Konsent-Entscheidungen und Wahlen geschult werden.
Die Pluspunkte sind, dass sie klein sind; sie sind auf Nachbarschaft basierend, sie sind auf drei Ebenen zusammengeschlossen oder verbunden und sie sind bis zu einem gewissen Grad an Regierungen gebunden. Sie müssen jedoch auf allen Ebenen mit den oberen und, so vorhanden, unteren Ebene verknüpft werden, mit der Möglichkeit einen Delegierten auch zu wechseln.
Sie müssen ein integraler Bestandteil der gesamten Regierungsstruktur auf allen Ebenen sein und nicht nur eine parallele Struktur oder ein Zusatz. Soziokratische Strukturen gibt es bereits, aber noch nicht komplett am Laufen.
Wer betreut sie?
Das hängt von der Expertise der staatlichen Struktur, einer halbstaatlichen Körperschaft, ab, die den Prozess leitet. Sie hat ihre eigenen Mitarbeiter auf verschiedenen Ebenen. Aber diese müssen erst noch in angemessener Weise in die Soziokratie eingeführt werden.
Wie viele Personen arbeiten im Programm?
Ich würde vorschlagen, sich ein Bild der Mitarbeiter*innen auf Landesebene unter www.kudumbashree.org/pages/108 sowie unter www.kudumbashree.org/district/Thiruvananthapuram/team für die der Bezirksebene zu machen.
Wie finanzieren sich die Nachbarschaftsverbände sowie die anderen Gruppierungen?
Was die Nachbarschaftsgruppen armer Frauen betrifft, haben sie ihre eigenen kleinen Ersparnisse und Kredite. Sie agieren sogar für ihre Mitglieder wie kleine Banken.
Die Nachbarschaftsparlamente sowie die sogenannten Basisgemeinden innerhalb der Kirche verfügen über eigene Sammlungen und Mittel auf Nachbarschaftsebene.
In der von der Regierung von Kerala eingeführten Nachbarschaftsversammlungen sollen die „Panchayats“ und die Nachbarschaften die Mittel für sich selbst aufbringen. Es gibt klaren Anweisungen vom Kerala Institute of Local Administration, die sich auf klare definierte Aufläufe beziehen.
Auch in den Kinderparlamenten können die Kinder die benötigten Mittel zumeist durch eigene Sammlungen untereinander oder durch Spenden lukrieren. Die meisten Kinderparlamente in der Nachbarschaft benötigen nicht viel Geld. Nur wenn sie an den Versammlungen auf verschiedenen Bundesebenen teilnehmen, wie denjenigen des Gebiets, der lokalen Verwaltung, des Unterbezirks, des Bundesstaates oder der Nation, brauchen sie Geld, um zu ihren jeweiligen Treffen zu reisen und an Schulungen und anderen Programmen teilzunehmen. Dafür müssen sie Mittel von verschiedenen Geldgebern, Organisationen oder Förderorganisationen organisieren.
Gibt es einen übergreifenden Effekt zwischen Nachbarschaftsgruppen und politischen Ämtern?
Ja. Wie wir bereits gesehen haben, wurden mehr Frauen als Männer in Regionalwahlen gewählt in dem besonderen Fall wo die Nachbarschaften funktionieren. Wir sehen auch viele Menschen, die aufgrund ihrer Einführung in die Nachbarschaftsaktivitäten zunehmend politische Ämter übernehmen. Sogar bei den Kindernachbarschaftsparlamenten sehen wir Heranwachsende, die Jungparlamentarier werden und in politische Aktivitäten einsteigen. Als nächstes Projekt starten wir mit unserem politischen Traum, d.h. dass die Kinder und andere die Vision einer auf Nachbarschaft basierenden, global-soziokratischen Regierung aufnehmen und dies zu einer anderen Art der Politik führen wird.
Welchen Einfluss haben die Nachbarschaftsvereinigungen, Kinderparlamente, etc. auf Indiens Politik/Regierung?
Die Kinder fassen Beschlüsse bei ihren Treffen und üben ihr Recht der Zustimmung aus, indem sie mit gewählten Vertretern, Ministern, etc. auf verschiedensten Ebenen zusammentreffen.
An welchen Maßstäben meßt ihr, ob diese Kreise funktionieren – auf einer Kreisebene?
Die Anzahl ihrer Treffen ist ein guter Indikator, weiters das Verhältnis der Teilnahme, die angesprochenen Themen und die Erfolge.
(Übersetzung:KARIN SCHUSTER und WERNER KRATOCHWIL)